Ein Leben lang im Keller

von Tobias Böhm

Heute ist das französische Wort Souterrain bei uns kaum noch gebräuchlich. Es stand lange Zeit in vornehmer Zurückhaltung für ein hochliegendes Kellergeschoß, in dem sich Wohnungen, Werkstätten und Läden befanden. Kellerwohnungen, die es einst in beträchtlicher Anzahl nicht nur in Berlin gegeben hat, lagen oft mehr als anderthalb Meter unter Hof- oder Straßenniveau.

Wer ein solch miserables Quartier bewohnen musste oder vermieten wollte, nannte es Souterrain. Damit kam man der ursprünglichen Bedeutung des Wortes sehr nahe. Im französischen Sprachgebrauch bezeichnet es auch einen unterirdischen Ort oder Gang. In den alten Berliner Adressbüchern wird nur allzu häufig die Lage einer Wohnung mit "sout." angegeben.

Vor allem die Kleingewerbetreibenden hatten ihr Domizil im Souterrain oder Parterre der Mietskasernen, ebenso die, die bei ihnen in Lohn und Brot standen. Lagen zunächst nur die Arbeitsräume zu ebener Erde oder darunter, so bei geringem Verdienst oder gar Verdienstausfall bald auch die Wohnungen.

Die Wohnungsfotos, die wir hier zeigen, wurden zu Beginn des Jahrhunderts als Beweis für die bestehenden Unzulänglichkeiten im Mietwesen veröffentlicht.

Bild 1
Berlin NO, Höchstestr. 8, Vorderhaus, Kellerwohnung - Der lungenkranke Mann haust mit Frau und sechs Kindern unter 14 Jahren in Stube und Küche. Er hat ein Bett für sich, zwei Kinder teilen mit der Mutter ein Bett, die anderen liegen in dem Kinderwagen, Kinderbett und dem Liegestuhl. Blitzlichtaufnahme vom 30. Oktober 1916
(Die Bildunterschriften sind geringfügig gekürzte Originaltexte aus den Wohnungsenqueten)

Auftraggeber dafür war die Ortskrankenkasse für den Gewerbebetrieb der Kaufleute, Handelsleute und Apotheker, die damals größte Berliner Krankenkasse. Dieses Unternehmen veranstaltete zwischen 1901 und 1920 mittels Fragebogen und Hausbesuchen bei ihren Versicherten, die finanzielle Unterstützung bezogen, regelmäßige Wohnungsenqueten. Deren Ergebnisse wurden in Berichten und Statistiken zusammengefasst und der Öffentlichkeit vorgestellt.

Die Untersuchungen dienten dem Nachweis, dass Krankheit und damit oft ungewöhnlich lange Erwerbsunfähigkeit zu einem großen Teil aus den katastrophalen Wohnverhältnissen resultierten. 1904 erschienen erstmalig Fotos als Beigaben, um auf die Missstände unbeschreiblichen Ausmaßes aufmerksam zu machen. Initiator und Textautor war der Direktor der Kasse, Albert Kohn (1857-1926). Einst gewählter Vertrauensmann der Berliner Handlungsgehilfen, führte er von 1898 bis 1925 dort die Geschäfte. Ihm verdanken wir die einmaligen Zeugnisse dieser Schattenseite großstädtischen Wohnens.

Es sind nur zwei Fotos nötig, um eindrucksvoll zu belegen, wie eine Frau im Keller haust. Die ganze Wohnung bestand aus einem 12,6 Quadratmeter großen Raum von 2,50 Meter Höhe (Abbildung 2). Zu seinen wesentlichen Ausstattungsgegenständen zählten ein Bett sowie eine Koch-und Heizgelegenheit. Das Klo lag immerhin schon nicht mehr auf dem Hof, sondern im Haus, aber noch außerhalb der Wohnung - eine halbe Treppe höher. Von oben ragt es, wie wir sehen können, zur Hälfte ins Zimmer. Die mit Kleidern behangene Holztür rechts führt direkt zu einem Pferdestall, der an dem niedergetretenen Eingang (Abbildung 3) gut zuerkennen ist. So sah es aus mitten in Berlin, in der Bergstraße 38, im linken Seitenflügel.

Die Bilder fertigte die Firma Heinrich Lichte & Co., ein auf vielen Gebieten tätiges "Photographisches Atelier". Eine Geschäftsanzeige von 1910 warb für folgende Dienstleistungen: "Künstlerische Aufnahmen von Architekturen, Fabrik-Interieurs, Wohnungen, Möbeln, Maschinen, Plafonds, kunstgewerblichen Gegenständen, Photographien in Naturfarben, Porträt-Aufnahmen im eigenen Heim, Blitzlichtaufnahmen zu jeder Tages- und Nachtzeit, Reproduktionen nach Zeichnung und Gemälde, Vergrößerungen,

Bild 2
Berlin N., Bergstr. 38, linker Seitenflügel, Kellerwohnung - Der Raum ist verräuchert, der Fußboden zu einem Drittel gepflastert, der übrige Teil gedielt. Die Holztür rechts führt zum benachbarten Pferdestall. Blitzlichtaufnahme um 1910

Kunstblätter zu Katalogen vornehmster Ausführung". Hier war also noch alles in Auftrag zu geben: Fabrikanten-Porträts im eigenen Heim, der Grunewald-Villa "in vornehmster Ausführung" vielleicht, ebenso wie Fotos der elenden Unterkünfte von Kranken und Alten, Arbeitslosen und Kinderreichen.

Für diese Aufnahmen musste nicht nur das Blitzlicht als unentbehrliches Hilfsmittel in Anspruch genommen werden. Das Fotografieren im Innern der Räume erforderte besonderes Geschick in der Handhabung der Kamera, um trotz engem Geviert einen Gesamteindruck vermitteln zu können. So gelang es nur durch die Verwendung von Weitwinkelobjektiven, die Gegebenheiten annähernd vollständig zu erfassen. Sicherlich kostete es auch einige Überredungskünste, von den Kassenmitgliedern eine Fotoerlaubnis oder gar die Genehmigung zur Preisgabe ihrer Privatsphäre zu bekommen.

Bild 3
Das Kellerfenster links vom Hauseingang gehört zu der nebenstehenden Wohnung, die nach unten führende Treppe hat acht Stufen. Die beiden Kellerfenster links erleuchten den Pferdestall, dessen Eingang in der Bildmitte zu sehen ist

Ein kurzer Text zu jedem der dokumentarischen Fotos, nicht selten mit den Raummaßen und der Bezeichnung der Krankheiten ihrer Bewohner, stets aber mit präziser Angabe des Ortes versehen, ergänzte die visuelle Information. Mehrere Aufnahmen von einer Wohnung sollten eine wirklichkeitsnahe Vorstellung von den Lebensbedingungen der Kranken ermöglichen. Kohn weiß jedoch am Ende, "dass alle Bilder, die mit Blitzlicht aufgenommen sind, die Räume heller und dadurch günstiger darstellen, als es den Tatsachen entspricht, wie sich denn auch die üblen Dünste mancher Wohnräume wie manch anderer Uebelstand weder in Wort noch im Bilde wiedergeben lassen".

Ein zweites Beispiel zeigt die "Lebens-"Räume des Ehepaares Stuckenberg unter der Zigarrenhandlung von Paula und Hermann Kamenzki (Abbildung 4) im ehemaligen Postbezirk SO 36.

Bild 4
Berlin SO., Lausitzer Str. 41 - Die Eingangstür und die zwei kleinen Fenster der Kellerwohnung des Ehepaares Stuckenberg.

Die Stuckenbergs wohnten in der Lausitzer Straße 41 nahe dem Görlitzer Bahnhof. Die Außenansicht ihrer Wohnung ergab ein merkwürdiges Foto. Die ungewöhnliche Aufnahmeperspektive, die der Fotograf wählte, indem er die Unterkante des Hauses in die Bildmitte rückte und den Tabakwarenladen an der Oberkante beschnitt, lenkt unseren Blick auf Fenster und Tür unter der Verkaufsstelle. Hinter den drei Stufen zum Cigarren-, Tabak- und Cigaretten-Geschäft der Kamenzkis befindet sich noch ein Fenster. Die Tür links im Bild führt hinab zur Werkstatt des Schuhmachermeisters Karl Stuckenberg. Hier arbeitete er 29 Jahre - von 1881 bis 1910! Das Haus gehörte dem benachbarten St. Marienkrankenhaus und wurde zum Zeitpunkt der Aufnahme, dem 15./16. Mai 1909, von einer Oberin namens Winkler verwaltet.

Eine geeignetere Werkstatt hätte Karl Stuckenberg 1881 kaum finden können. Die niedrige Miete entsprach seinen Verdienstmöglichkeiten, er konnte sie durch harte Arbeit gerade so aufbringen. Der Ein-Mann-Betrieb hatte keine Chance, je wesentlich bessere Existenzbedingungen zu finden. Die winzige Schuhmacherei erhielt Tageslicht allein durch die Eingangstür, die danebenliegende Wohnstube durch die beiden kleinen Fenster. Wie sah es dort im Innern aus? Da ist die Schuhmacherwerkstatt mit Arbeitsgeräten, einem Kachelofen, einem Schrank, einem

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Pücklerstr. 14, Kellerwohnung bestehend aus Stube, Kammer und Küche - Der Familienvater vermietet an Schlafburschen; Hühner und Kaninchen laufen in der Wohnung umher. Die Familie besteht aus Mann, Frau und fünf Kindern. Die dunkle Stube dient sechs Personen als Schlafraum

Schemel und, man glaubt es kaum, mit Taubenkäfigen. Die Taubenzucht dürfte der Nebenerwerb, vielleicht aber auch eine vollkommene Abwechslung im Leben des Mannes gewesen sein.

Der Werkstattkeller ist nicht unbedingt der ideale Ort dafür. Der Schmutz, die Enge und der schlechte Zustand des überfüllten Raumes sind beängstigend.

Und doch spiegelt das Foto (in unserer Auswahl nicht berücksichtigt) die Arbeitsbedingungen eines Menschen wider, der drei Jahrzehnte hier verbrachte.

An die Werkstatt grenzte der Wohn- und Schlafraum des Ehepaares Stuckenberg (Abbildung 5). Der Fotograf verweist auf dessen geringe Höhe und die hochliegenden Fenster. Die Gardinen werden gebraucht, um Blicke von Passanten abzuwehren, aber wohl ebenso, um sich die Aussicht auf Schuhspitzen und Hacken zu ersparen. Bilder und Zierrat an den Wänden dienen nicht nur dazu, die feuchten und unebenen Mauern, an denen Putz und Farbe abzubröckeln beginnen, zu verdecken. Sie entsprechen sicher auch den Vorstellungen der Frau von Behaglichkeit.

Bild 5
Die Wohn- und Schlafstube, deren rechts abgebildetes Fenster unter der Ladentreppe liegt. Blitzlichtaufnahme

Die Stuckenbergs sind auf diesem Foto abgebildet. Sie auf dem Krankenbett sitzend, er in der Schürze seiner Zunft; die Augen geschlossen, weil ihn das blitzende, zur Belichtung der Platte nötige Magnesiumlicht blendete.

Kurz nachdem diese Aufnahmen entstanden sind, zogen die Eheleute 1910 in die Reichenberger Straße 114, eine Querstraße der Lausitzer. Auch hier reichte es nur für eine Parterrewohnung auf dem Hof. Insgesamt liegen 175 solcher seltenen Bilder als Kupfertiefdrucktafeln in 17 Jahres- bzw. Zweijahresberichten der Ortskrankenkasse vor. Es blieben nur wenige Originalabzüge, darunter auch unveröffentlichte, erhalten. Sie werden heute in DDR-Archiven aufbewahrt. Was aus den Negativen wurde, ist nicht bekannt.

Die im Auftrag von Albert Kohn hergestellten Fotos sind bis etwa 1925 nahezu die einzigen fotografischen Dokumente über Berliner Mietwohnungen. Der besondere kulturhistorische Wert der Aufnahmen muss nicht ausdrücklich betont werden. Wir lassen die Fotografien, wie Kohn es tat, "für sich selbst sprechen".


Quelle: "Das Magazin" Heft 6 Juni 1983